Für viele Studierende scheint die logische Folge des Rechtsstudiums der Erwerb des Anwaltspatents zu sein. Wie Ihr aus unseren letzten beiden Blogposts bereits wisst[1], ist es erforderlich – je nach kantonalen Vorschriften – während mindestens einem Jahr juristische Praxiserfahrung zu sammeln, bevor man zur Anwaltsprüfung zugelassen ist. Addiert man die intensive Lernphase sowie die anschliessende Wartezeit zwischen schriftlicher und mündlicher Prüfung dazu, ist i.d.R. mit einem weiteren Jahr zu rechnen. In jedem Fall halten wir fest: Die Vorbereitung auf die Anwaltsprüfung ist mit einem sehr grossen Zeitaufwand verbunden.
Doch was bringt Dir das Anwaltspatent tatsächlich in der Praxis? Wie wichtig ist es für deine Karriere? Und welche beruflichen Optionen gibt es, die auch ohne Anwaltspatent offenstehen? Im vorliegenden Blogpost haben wir für Dich einige Möglichkeiten geprüft.
Disclaimer: Grundsätzlich ist zwischen den Begriffen «Jurist» und «Rechtsanwalt» zu unterscheiden. Mit dem abgeschlossenen Masterstudium in Rechtswissenschaften wirst Du zu einem Juristen resp. zu einer Juristin. Erst nach der bestandenen Anwaltsprüfung und mit Eintragung in das Anwaltsregister bist Du Jurist oder Juristin mit einem Anwaltspatent, d.h. Rechtsanwältin oder Rechtsanwalt.
Die Befähigung des Anwaltspatents aus rechtlicher Sicht
Gemäss der Zivilprozessordnung sind Anwältinnen und Anwälte, die nach dem Anwaltsgesetz berechtigt sind, Parteien vor schweizerischen Gerichten zu vertreten, zur berufsmässigen Vertretung in allen Verfahren befugt (Art. 68 Abs. 2 lit. a ZPO). Vor der Schlichtungsbehörde, in vermögensrechtlichen Streitigkeiten des vereinfachten Verfahrens sowie in den Angelegenheiten des summarischen Verfahrens sind zudem patentierte Sachwalterinnen und Sachwalter sowie Rechtsagenten zur Vertretung befugt. In Angelegenheiten des summarischen Verfahrens nach Art. 251 ZPO sind gewerbsmässige Vertreter nach Art. 27 SchKG zur Vertretung befugt und vor den Miet- und Arbeitsgerichten verfügen beruflich qualifizierte Vertreter ebenfalls über eine Vertretungsbefugnis. (Art. 68 ZPO). In allen Fällen kann das kantonale Recht jedoch Vorbehalte vorsehen.[2]
Nach Erhalt des Anwaltspatents und Eintrag im BGFA-Anwaltsregister unterstehen Rechtsanwälte dem Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (BGFA). Für sie gelten die Berufsregeln nach Art. 12 BGFA, zudem unterliegen sie dem Berufsgeheimnis nach Art. 13 BGFA. Dabei haben sie für die Wahrung des Berufsgeheimnisses durch ihre Hilfspersonen zu sorgen.[3] Die kantonalen Anwaltsverbände sowie der Schweizerische Anwaltsverband (SAV) sehen nebst den Berufsregeln noch sogenannte Standesregeln vor, welche für die Mitglieder der jeweiligen Anwaltsverbände gelten. Mit der Mitgliedschaft im kantonalen Anwaltsverband erfolgt automatisch auch die Mitgliedschaft im SAV.
Während Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen viele Pflichten[4] auferlegt werden, dürfen sie im Gegenzug ohne weitere Bewilligung Parteien vor Gerichtsbehörden in der Schweiz vertreten, sofern sie in einem kantonalen Anwaltsregister eingetragen sind.
Welche Tätigkeiten sind denn aber nun den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten vorbehalten?
Grundsätzlich darf jeder seine Sachen selbst vor Gericht führen; es besteht demnach kein Anwaltszwang. Hingegen ist die berufsmässige Vertretung vor Gericht in Zivil- und Strafsachen grundsätzlich den Anwältinnen und Anwälten, welche im Anwaltsregister eingetragen sind, vorbehalten (sog. Anwaltsmonopol).[5] Ebenso ist auf kantonaler Ebene die Vertretung in Verwaltungssachen den Anwältinnen und Anwälten vorbehalten, sofern die Kantone nichts anderes vorsehen. Das Anwaltsgesetz des Kantons Zürich sieht in Art. 11 die vorbehaltenen Tätigkeiten für die Anwaltschaft vor.[6] Die Vertretung vor Verwaltungsjustizbehörden wird dabei nicht erwähnt. Dies bedeutet, dass bspw. in bau- oder steuerrechtlichen Angelegenheiten keine anwaltliche Vertretung zwingend ist.
Es zeigt sich demnach, dass Du auch ohne Anwaltspatent, unter gewissen Umständen, eine Partei vor Gericht vertreten kannst.
Berufsmöglichkeiten ohne Anwaltspatent
Bei den vorliegenden Optionen ist die Qualifikation als Juristin oder Jurist, d.h. ein abgeschlossenes Studium in Rechtswissenschaften, eine Grundvoraussetzung. Die Informationen stammen aus intensiver Recherche sowie aus Gesprächen mit Berufstätigen.
Akademische Laufbahn
An den Universitäten gibt es durchaus exzellente Professoren oder Lehrbeauftragte, welche nicht über ein Anwaltspatent verfügen. Ein Entscheid für eine akademische Karriereweg kann je nach Ausschreibung der jeweiligen Universität zu einem Lehrauftrag oder sogar eine (ordentliche) Professur im betreffenden Rechtsgebiet führen. Solche Stellen werden meist im Rahmen eines Wahlverfahrens vergeben und es werden je nach Position unterschiedliche Qualifikationen gefordert.[7] So ist bspw. bei einer ordentlichen Professur eine abgeschlossene Habilitationsschrift oder habilitationsäquivalente Leistungen mit dem Schwerpunkt im gefragten Rechtsgebiet gefragt. Ein Anwaltspatent stellt hingegen für eine akademische Laufbahn keine zwingende Voraussetzung dar, kann aber mit den damit verbundenen Praxiserfahrungen einen zentralen Vorteil im wettbewerblichen Bewerbungsverfahren darstellen.
Für den Einstieg in einen akademischen Beruf stellt jedoch ein qualitativ hochwertiger Forschungsausweis eine wichtige Voraussetzung dar. Demnach kann eine lange Publikationsliste von Vorteil sein; diese ist allerdings äusserst zeitintensiv und lässt sich neben beruflicher Tätigkeit in einem anderen Bereich oft nur schwer im gewünschten Umfang ausbauen.
Behörden
Je nach Behörde ist für eine juristische Tätigkeit kein Anwaltspatent erforderlich. Um bspw. auf dem Amtsnotariat als Notarin oder Notar tätig zu sein, benötigst Du das kantonale Notar-Patent.[8] In einigen Stellenbeschrieben bei staatlichen resp. kantonalen Behörden lässt sich oft «vorzugsweise mit Anwaltspatent» oder „Anwaltspatent von Vorteil“ herauslesen.[9] Auch ein Doktorat kann als Voraussetzung ausreichen. Demnach kann es je nach Qualifikation der interessierten Kandidaten sein, dass diejenigen mit einem Anwaltspatent bevorzugt werden. So sind wir in der Recherche auf einen Stellenausschrieb als «Jurist in der öffentlichen Verwaltung» gestossen mit der Anforderung, die Bewerberin oder der Bewerber habe entweder über ein Anwaltspatent oder eine Zusatzausbildung im Bereich der öffentlichen Verwaltung zu verfügen. Jene Kriterien können allerdings je nach Stellenausschrieb der jeweiligen Institution variieren.
Steuern
Möchtest Du in der Steuerwelt tätig sein - ob als Steuerberater oder Steuerkommissär – ist ein Anwaltspatent in der Regel nicht erforderlich. Stattdessen stehen Dir spezialisierte Ausbildungswege, wie der Steuerexperte (STEX) oder die Weiterbildung zum Dipl. Fachmann/-frau Steuern GFS. Diese Lehrgänge vermitteln gezielte Fachkenntnisse im Steuerrecht und sind oft berufsbegleitend. Demnach bieten Dir diese dank der praxisnahen Expertise entscheidende Vorteile, da das Anwaltspatent eher auf ein breites juristisches Wissen ausgerichtet ist. Mit einem solchen spezialisierten Abschluss bist Du umfassend qualifiziert, in sämtlichen Bereichen der Steuern zu beraten und vertreten. Hier greift das Anwaltsmonopol nicht.
In-house/Unternehmensjurist(in)
Als Unternehmensjurist oder Unternehmensjuristin arbeitest Du in der Rechtsabteilung eines Unternehmens und Deine Aufgabe besteht darin, u.a. zu internen Rechtsfragen, Compliance- und Vertragsangelegenheiten zu beraten. Für diese Berufstätigkeit ist es insbesondere wichtig, das tägliche Geschäft der jeweiligen Unternehmung zu verstehen. Oft stellt das Anwaltspatent dabei einen Vorteil, aber keine zwingende Voraussetzung dar. Dagegen setzen viele Arbeitgeber einige Jahre Berufserfahrung im jeweiligen Branchen- oder Tätigkeitsgebiet voraus. Dies muss jedoch nicht zwingend mit einem Anwaltspatent zusammenhängen; es kann durchaus möglich sein, dass man sich als branchenerfahrene Person auch ohne Anwaltspatent im Bewerbungsverfahren durchsetzen kann.
Fazit
Eine Karriereeinstieg ohne Anwaltspatent ist durchaus möglich. Der Hauptunterschied liegt darin, dass der Anwaltschaft die Berufsausübung im Bereich des Anwaltsmonopols vorbehalten ist. Die (beruflich verfolgte) juristische Vertretung vor Zivil- und Strafgerichten, sowie vor gewissen Verwaltungsgerichten ist ohne Anwaltspatent nicht möglich., Nebst den vorbehaltenen Rechten unterliegen eingetragene Rechtsanwälte gewissen Pflichten. Abgesehen davon ist das Anwaltspatent nur insofern notwendig, als es im Jobbeschrieb vorausgesetzt wird. Das Patent wird oftmals gern gesehen, da es auf einen gewissen Ausbildungs- und Wissensstandard hindeutet. Je nach Qualifikation der Bewerberinnen und Bewerber kann es gut sein, dass man ohne das Patent im Nachteil ist
Jedoch bringt Dir das Erwerben des Anwaltspatent eine breite Expertise mit; Dein Wissen über die gesamten Fächer der Rechtswissenschaften erreicht wahrscheinlich den Höhepunkt bei der Vorbereitung und Durchführung der Anwaltsprüfung. Jedoch, wenn Du Dich schon früh entschieden hast, dass Du später im Steuerrecht tätig sein wirst, kann es sinnvoller sein, Deine Expertise über die Ausbildung zum STEX zu erlangen. Fest steht hingegen auch, dass das Anwaltspatent in einigen Kanzleien noch als Grundvoraussetzung insbesondere auch für bestimmte Beförderungen angesehen wird. Der Entscheid gegen das Anwaltspatent bedeutet, dass Du bestimmte Prozesse nicht führen können wirst. Dafür kannst Du die Zeit, welche Du dadurch gewinnst, nutzen, um wertvolle Expertise zu sammeln, welche in anderen Bereichen besonders gern gesehen sind. Somit soll der Entscheid, ob Du den Weg über die Anwaltsprüfung gehst oder nicht auf Deinen aktuellen Interessen und Berufseinstiegschancen beruhen: Das Erlangen des Anwaltspatents ist bestimmt von grossem Vorteil – jedoch stehen Dir auch ohne Patent viele Türen offen!
[1] Wie sieht die Anwaltsprüfung in deinem Kanton aus? Part I siehe https://www.corporate-law-club.ch/post/wie-sieht-die-anwaltspr%C3%BCfung-in-deinem-kanton-aus ; Part II siehe https://www.corporate-law-club.ch/post/wie-sieht-die-anwaltspr%C3%BCfung-in-deinem-kanton-aus-part-ii
[2] Zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO): https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2010/262/de
[3] Zum Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (BGFA): https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2002/153/de
[4] Art. 12 und Art. 13 BGFA: https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2002/153/de
[5] Als Ausnahme gilt z.B. der Rechtsbeistand nach Art. 127 StPO, welcher nicht zwingend über ein Anwaltspatent verfügen muss.
[6] Zum Anwaltsgesetz des Kanton Zürich: https://www.notes.zh.ch/appl/zhlex_r.nsf/OpenAttachment?Open&docid=562DA3E5A0EEF989C12577E10047DF30&file=215.1_17.11.03_71.pdf
[7] Vgl. etwa Reglement über die Wahl von Assistenzprofessuren und Assoziierten Professuren an der Universität St.Gallen vom 7. Dezember 2020.
[8] Die Ausbildungs- und Zulassungsvorschriften von Notarinnen und Notaren variieren kantonal. So kennen einzelne Kantone für Hochschulabsolventinnen und Hochschulabsolventen oder Inhaberinnen und Inhaber des Anwaltspatents gewisse Prüfungsdispensitionen.
[9] So bspw. bei der ESTV wird für eine Stelle als Jurist im Bereich MWST «vorzugsweise ein Anwaltspatent und/oder einige Jahre Berufspraxis» verlangt.