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Wie lese ich einen Bundesgerichtsentscheid?

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Ob bundesgerichtliche oder kantonale Rechtsprechung – deren Lektüre kann eine echte Herausforderung sein. Dennoch stellen sie das Auslegeinstrument zu den Gesetzen dar und sind für die juristische Recherche unabdingbar. In diesem Blogpost erklären wir dir, wie ein gerichtlicher Entscheid aufgebaut ist und wie Du diesen effektiv durcharbeiten kannst. Aufgrund der Wichtigkeit von Bundesgerichtsentscheiden richten wir unseren Fokus mehrheitlich auf die höchstgerichtliche Rechtsprechung der Schweiz. Unser Ziel ist es, dass Du nach der Lektüre in der Lage bist, Entscheide gezielter zu analysieren und sie in deiner Prüfungsvorbereitung sowie in Seminararbeiten sinnvoll einzusetzen. Viel Spass bei der Lektüre! 


Wo finde ich die schweizerische Rechtsprechung? 

Bevor wir in den Aufbau der Gerichtsentscheide eintauchen, wollen wir dir zunächst die wichtigsten Quellen vorstellen, in denen Du kantonale und bundesgerichtliche Rechtsprechung finden kannst. Folgende Webseiten und Plattformen erleichtern dir die Recherche: 

  • www.relevancy.bger.ch: Dies ist das Tool des Bundesgerichts selbst, wo Du ihre Entscheide seit dem Jahr 1954 finden kannst. Die Datenbank wird laufend für Entscheide ab dem Jahre 2000 aktualisiert. Auch findest Du auf dieser Plattform bei Bedarf Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Das Bundesstrafgericht, das Bundesverwaltungsgericht sowie das Bundespatentgericht haben eine separate Datenbank. Auch die Kantone haben Rechtsprechungsdatenbanken, welche sich allerdings von Kanton zu Kanton stark in der Struktur und Handhabung unterscheiden.[1]

  • www.entscheidsuche.ch: Diese Suchmaschine funktioniert zwar ähnlich wie die bundesgerichtlichen Datenbanken, jedoch stellt ihre Stichwortsuche ein zentraler Vorteil dar. Willst Du die erlassene Rechtsprechung z.B. zur Dekotierung einer Gesellschaft wissen, kannst Du dies in der Leiste eingeben und findest alle bundesgerichtlichen und kantonalen Entscheide, die das Wort „Dekotierung“ enthalten. Demnach raten wir dir, hier möglichst spezifisch und gezielt zu suchen. 

  • Auf Swisslex und Legalis: Diese zwei Plattformen werden wohl am meisten von Rechtstudierenden genutzt, um juristische Recherche zu betreiben. Die Datenbank enthält nicht nur Literatur der juristischen Lehre, sondern es sind auch Urteile zu finden. Ein grosser Vorteil besteht dabei darin, dass die Entscheide oft in der jeweiligen Literatur so zitiert sind, dass Du direkt zu den für dich relevanten Quellen gelangst, ohne sie separat suchen zu müssen. Auch kann man so schneller, falls vorhanden, zu Urteilsbesprechungen gelangen. 


Wie ist ein Entscheid aufgebaut und was beinhaltet dieser? 

Im Urteilskopf bzw. im Rubrum findest Du Informationen zur Besetzung des Gerichts, das Entscheiddatum, die betroffenen Parteien und deren Rechtsvertreter sowie die Bezeichnung der Streitsache. In der Regel entscheidet das Bundesgericht in einer 3er Besetzung, bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung oder auf Antrag einer Richterin oder eines Richters in einer 5er Besetzung. Der Entscheid beginnt sodann mit einer kurzen Aufführung des relevanten Sachverhalts, worauf die Erwägungen des Bundesgerichts folgen.


Aktenzeichen 

Die Leitentscheide des Bundesgerichts werden unter Aktenzeichen mit folgendem Format “BGE 139 I 16, E. 2” publiziert. Solchen Entscheiden kommt eine wichtige Bedeutung zu, da das Bundesgericht ihnen eine über den beurteilten Einzelfall hinausgehende Tragweite beimisst.  

“BGE” steht dabei für einen amtlich publizierten Entscheid des Bundesgerichts. Aus der ersten Zahl (im Beispiel “139”) ergibt sich der Jahrgang des Entscheids der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, die im Jahr 1875 begonnen hat. Die Berechnung lautet wie folgt: 139 + 1875 –1 = 2013.   

Die römischen Ziffern (hier “I”) geben Auskunft darüber, in welchem Band das Bundesgericht den Entscheid publiziert hat. Dies weist sogleich daraufhin, in welchem Rechtsgebiet der Entscheid anzugliedern ist. 


  • I: Verfassungsrecht 

  • II: Verwaltungsrecht und internationales Recht 

  • III: Zivilrecht sowie Schuldbetreibungs- und Konkursrecht 

  • IV: Strafrecht und Strafvollzug 

  • V: Sozialversicherungsrecht 


Die Zahl nach der römischen Ziffer (“16”) weist auf die Seitenzahl des Entscheidbeginns in der amtlichen Entscheidsammlung hin. Zuletzt dient “E. 2” als Erwägung des Bundesgerichts der genaueren Spezifizierung der Fundstelle.  

Bei älteren Entscheiden wurde zuletzt die Seitenzahl des Erwägungsbeginns angegeben, worauf in neuen Entscheiden jedoch verzichtet wurde.  

Entscheide, deren Urteil keine grosse Bedeutung über den Einzelfall hinaus zukommt, werden unter Angabe einer Dossiernummer publiziert. Diese Dossiernummer trägt folgendes Format: “Urteil (des Bundesgerichts) oder BGer 5C_260/2006 vom 30. März 2007”. “Urteil” oder “BGer” zeigt, dass es sich um einen nicht amtlich publizierten Entscheid des Bundesgerichts handelt. Die Zahl “5” weist wiederum auf die Abteilung hin, welche den Entscheid getroffen hat.  


  • 1: I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 

  • 2: II. Öffentlich-rechtliche Abteilung 

  • 3: (Reserve) 

  • 4: I. zivilrechtliche Abteilung 

  • 5: II. Zivilrechtliche Abteilung 

  • 6: I. Strafrechtliche Abteilung 

  • 7: II. Strafrechtliche Abteilung 

  • 11-15: Spezialdossiers 


Der Buchstabe (im genannten Beispiel “C”) steht für das Verfahren, wobei zwischen verschiedenen Verfahren unterschieden wird. Der Buchstabe “C” steht für die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, der Buchstabe “D” für eine subsidiäre Verfassungsbeschwerde. Die vollständige Liste findest Du auf der Webseite des Bundesgerichts.[2] 

Die Zahl nach dem Schrägstrich (hier “260”) weist auf die Dossiernummer hin, die fortlaufend pro Jahr läuft. Der Jahrgang (“2006”) des Entscheids richtet sich nach dem Datum der Beschwerdeeingabe, wobei zuletzt das konkrete Datum “30. März 2007” des getroffenen Entscheids angegeben wird.

  

Grundsätzlich handelt es sich bei den meisten Entscheiden um “BGer”. Daraus können sich jedoch auch Leitentscheide entwickeln und ein “BGer” kann zu einem “BGE” werden.  


Erwägungen und Dispositiv 

Für deine juristische Recherche spielen die Erwägungen des Bundesgerichts die wichtigste Rolle, denn durch seine Rechtsprechung trägt das Bundesgericht zur Entwicklung des Rechts und zu dessen Anpassung an veränderte Verhältnisse bei. Eingangs werden die wichtigsten Punkte des bereits festgestellten Sachverhalts aufgeführt. Dabei ermittelt das Bundesgericht den Sachverhalt nicht neu, sondern es stützt sich auf die bereits von der Vorinstanz bestimmten Tatsachen. Eine Korrektur durch das Bundesgericht erfolgt nur dann, wenn die Sachverhaltsfeststellung offensichtlich fehlerhaft ist oder auf einer Rechtsverletzung basiert (sog. eingeschränkte Kognition). Darauf folgt die Prüfung der Zulässigkeit des vom Beschwerdeführer eingelegten Rechtsmittels. Kern der Erwägungen bildet die rechtliche Begründung, welche den Entscheid des Bundesgerichts untermauern soll. Hierzu greift es die Erwägungen der Vorinstanz auf und unterstützt oder verwirft diese mit jeweiliger Begründung. Im Dispositiv folgt der eigentliche Entscheid, welcher den Sachentscheid, den Kostenentscheid, die Rechtsmittelbelehrung sowie den Entscheid über die Art der Bekanntmachung enthält. Erhält der/die Beschwerdeführer/in vor Bundesgericht Recht, muss die Vorinstanz den Fall nur dann neu beurteilen, wenn das Bundesgericht mangels genügender Sachverhaltselemente nicht selbst entscheiden kann. 


Wir hoffen, dass diese Ausführungen deine Recherchearbeit unterstützen, und Du spätestens jetzt verstanden hast, wie Du einen Bundesgerichtsentscheid richtig liest. Übrigens, falls Du selbst einmal bei der Verfassung eines Bundesgerichtsentscheides mitwirken möchtest: Das Bundesgericht bietet sechsmonatige Praktika an, auf welche Du dich nach deinem Masterabschluss bewerben kannst.





[1] Vgl z.B. Zürich im Vergleich zu Appenzell Innerrhoden.

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